Psychische Erkrankungen bei Jugendlichen

Psychische Erkrankungen bei Jugendlichen – Typisch Pubertät oder echte Krise? Ein Überblick

Erwachsenwerden ist nicht einfach – und häufig läuft das nicht ohne seelische Nöte ab. Verlaufsstudien belegen, dass psychische Störungen mit dem Jugendalter, also etwa ab dem 11. Lebensjahr, ansteigen. Gut ein Fünftel aller Heranwachsenden zeigen psychische Auffälligkeiten, wie deutsche und internationale Studien nahelegen. Und etwa fünf Prozent der Jugendlichen in Deutschland und anderen Industrieländern erkranken an einer gravierenden psychischen Störung – seien es Essstörungen, Angsterkrankungen, Depressionen oder Störungen des Sozialverhaltens.
Hanna konnte nichts mehr empfinden, fühlte sich wie ein Roboter. In der Schule war sie überfordert, weil sie so schwach war. Die heute 16-jährige Hanna war magersüchtig. Sie konnte nur noch im Dunkeln und alleine essen, weil sie sich für das Essen so geschämt hat. Der 15-jährige Leon leidet unter einer starken sozialen Ängstlichkeit. Er hat sich nicht getraut, den Tanzkurs zu besuchen. Auch in die Skihalle ist er als einziger der Klasse nicht mitgekommen. Er geht zu keinen Partys und hat keine Verabredungen mehr. Schließlich hat er auch den Schulbesuch eingestellt, weil er ständig Bauch- und Kopfschmerzen hat. Ein Jahr lang ging er nicht mehr in die Schule.

 

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Psychische Erkrankungen bei Jugendlichen

Das Gehirn aus dem Gleichgewicht – Ursachen

„Jugendliche sind besonders anfällig für psychische Störungen“, betont Prof. Beate Herpertz-Dahlmann, Direktorin der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters an der Uniklinik Aachen. Dafür gibt es eine neurobiologische und eine gesellschaftliche Erklärung: „Zum einen baut sich beim Übergang zwischen Kindheit und Erwachsenenalter das Gehirn um. Zum anderen steigen die sozialen und schulischen Anforderungen, die an die Jugendlichen gestellt werden“, so die Expertin, die im Vorstand der Europäischen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und in der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) tätig ist.
Die Heranwachsenden haben in der Zeit der Adoleszenz – so wird die „psychosoziale Pubertät“ zwischen dem 11. und 21. Lebensjahr bezeichnet – viele Aufgaben zu bewältigen: Sie müssen mit den massiven Veränderungen ihres Körpers zurechtkommen und ihre Geschlechtsrolle annehmen. Sie müssen sich langsam von ihren Eltern ablösen und einen Freundeskreis aufbauen. Es wird erwartet, dass sie eine Zukunftsperspektive und eine eigene Weltanschauung entwickeln. Sie müssen lernen, Grenzen zu setzen, sich zu entscheiden und Verantwortung zu übernehmen.
Auch das Gehirn macht in dieser Zeit rasante Entwicklungsschritte, um sich auf das Erwachsenenleben vorzubereiten: Nervenverbindungen, die wenig in Gebrauch sind, werden abgebaut, während häufig aktivierte neuronale Netzwerke sich optimieren. „Dabei entsteht ein Ungleichgewicht zwischen den kognitiven Kontrollsystemen und denjenigen Systemen, die mit Emotionen assoziiert sind“, berichtet die Kinder- und Jugendpsychiaterin. Es wird vermutet, dass das limbische System und das Belohnungssystem – beide sind für Emotionen zuständig – die Oberhand gewinnen über die Regionen im Stirnhirn, die Steuerungsfunktionen übernehmen. Dieses Ungleichgewicht erklärt möglicherweise neben vielen weiteren Gründen, warum Jugendliche psychisch so labil sind. Doch damit es zu einer psychischen Erkrankung kommt, müssen noch andere Faktoren, wie eine Veranlagung, schwierige Erlebnisse in der Kindheit, Einfluss von Gleichaltrigen oder bestimmte familiäre Strukturen und Belastungen hinzukommen.
Wachsender Leistungsdruck, der auf den Kindern lastet und gleichzeitig überforderte Eltern, die als Doppelverdiener oder alleinerziehend ihre Berufstätigkeit organisieren müssen – das kann mit dazu beitragen, dass die Jugendlichen aus dem Gleichgewicht geraten. Auch Trennung oder Tod von Vater oder Mutter, schwere Krankheiten oder Mobbing-Erfahrungen können ein Auslöser für seelische Krisen sein. Ob Handy und Computer die Jugendlichen unglücklich machen, ist umstritten. Der Hirnforscher Prof. Manfred Spitzer beschwört die „Digitale Demenz“, so der Titel seines Bestsellers, und zitiert Studien, die zeigen: Je mehr die Schüler ihr Smartphone nutzen, desto ängstlicher, unzufriedener und depressiver werden sie. Andere Experten sehen es eher umgekehrt: Kinder, die psychische Probleme haben, flüchten sich möglicherweise immer mehr in die digitale Welt.

Wenn das Kind sein Zimmer nicht mehr verlässt – Warnzeichen

Es ist normal, wenn Jugendliche ausflippen, Krawall machen, zwischen euphorischer und tieftrauriger Stimmung hin- und herschwanken, sofort auf Kontra gehen und stundenlang vor dem Computer hocken. „Doch wenn der Jugendliche nicht mehr wirklich am Alltag teilnimmt und sein Zimmer kaum noch verlässt, dann sollten sich die Eltern Sorgen machen“, betont Prof. Herpertz-Dahlmann. Auch wenn der Jugendliche sich selbst verletzt, mehrmals exzessiv Alkohol trinkt, in der Schule plötzlich versagt oder über eine längere Zeit gar nicht mehr zur Schule gehen möchte, sind das Alarmzeichen. „Ein Viertel der Schulvermeider sind psychisch krank“, so die Expertin.
Wenn die Eltern sich ernsthaft Sorgen machen, sollten sie darauf bestehen, dass ihr Kind mit zu einer Beratung kommt. Die Kinderärztin oder der Kinderarzt, schulpsychologische Beratungsstellen oder andere kommunale Erziehungs-, Familien-, Jugend-, Mädchen-, Essstörungs- oder Drogenberatungsstellen können erste Anlaufpunkte sein. Die Beratungsstellen, wie beispielsweise Dick & Dünn Nordwest e.V. (www.dick-duenn.de), sind nicht unbedingt regional beschränkt, sondern bieten auch bundesweit per Telefon oder per E-Mail, Chats oder Foren Hilfe für Eltern oder auch die Jugendlichen selber an (s. Serviceteil). Auch eine Selbsthilfegruppe mit Gleichaltrigen kann eine mögliche Wartezeit auf einen Therapieplatz überbrücken und eine Therapie gut ergänzen, vorausgesetzt die Diagnose ist geklärt und die Gruppe wird professionell angeleitet.

Das Selbstbewusstsein stärken – die Therapie

Für die Therapie sind Fachärzte für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie zuständig (Psychiater haben immer auch eine psychotherapeutische Ausbildung) sowie Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten. „Ziel einer Therapie ist es, ein Problembewusstsein zu entwickeln, das Selbstbewusstsein des Jugendlichen zu stärken und gemeinsam mit ihm Bewältigungsstrategien zu erarbeiten“, sagt Dr. Gundolf Berg, Vorsitzender des Berufsverbandes für Kinder und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie in Deutschland (BKJPP) e.V. In den meisten jugendpsychiatrischen Praxen sind neben den Psychiatern verschiedene Berufe vertreten wie Sozial- oder Heilpädagogen, Psychologen oder Familientherapeuten.
„Je nachdem, was das Kind oder die Eltern brauchen, können verschiedene Therapieformen angeboten werden, wie kognitive Verhaltenstherapie, tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie, familienbasierte Therapien, heilpädagogische Förderung, Elternberatung, Gruppen- oder Einzeltherapie“, hebt der Kinder- und Jugendpsychiater hervor. Zudem ist eine solche Praxis vernetzt mit Ergotherapeuten, Logopäden, Erziehungsberatungsstellen, Schulen und Jugendamt. „Die Eltern werden immer in die Therapie mit einbezogen, sind aber nicht bei jedem Termin dabei“, so Dr. Berg.
Weil eine Magersucht lebensgefährlich werden kann, wurde Hanna in einer Klinik behandelt. In diesem Schutzraum jenseits des Alltags hat sie es geschafft, begleitet von Psychotherapeuten sowie Körper-, Kunst- und Ernährungstherapeuten, ihr Essverhalten wieder zu normalisieren. Sie habe viel von den Erfahrungen der Therapeuten, aber auch der Mitpatientinnen profitiert, sagt sie. Im Nachhinein hätte sie sich gewünscht, dass ihre Eltern sie früher auf ihre Probleme angesprochen hätten. „Ich hätte zwar alles abgestritten, aber es wäre wichtig gewesen.“

„Was ist los mit dir?“ – Tipps für Eltern

  • „Was ist los mit dir?“, „Geht’s dir nicht gut?“ – mit diesen einfachen Fragen sollten Eltern immer wieder das Gespräch suchen und sich Zeit dafür nehmen. Wichtig ist es, den Jugendlichen ruhig und mitfühlend zu begegnen und nicht panisch oder aggressiv zu reagieren. Verleihen Sie Ihrer Sorge Ausdruck und teilen Sie Ihrem Kind mit, was Sie beobachtet haben. Lassen Sie nicht locker: Suchen Sie immer wieder das Gespräch.
  • Wenn Vater oder Mutter in der Pubertät ähnliche oder andere Schwierigkeiten hatten, sollten sie das ihrem Kind erzählen. Jugendliche mögen es, wenn sie als gleichberechtigte Gesprächspartner angesehen werden.
  • Warten Sie nicht zu lange, bis Sie professionelle Hilfe hinzuziehen. Versuchen Sie Ihr Kind dazu zu bewegen mitzukommen. Zur Not gehen Sie zunächst alleine, das sollten Sie Ihrer Tochter, Ihrem Sohn aber vorher mitteilen. Beratungsstellen finden sich im gesamten Bundesgebiet, eine Beratung kann aber auch am Telefon oder online erfolgen.
  • Erkundigen Sie sich nach einem Elterntraining. Manche Kliniken, Ambulanzen oder Praxen bieten ein solches Coaching an für Eltern, deren Kind zum Beispiel an der Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Störung (ADHS), einer Essstörung, Depression oder Angststörung erkrankt ist.
  • Das Interesse der Eltern, die Teilnahme am Leben der Kinder ist der wichtigste Schutzfaktor für die psychische Gesundheit der Heranwachsenden. Sorgen Sie zum Beispiel für tägliche gemeinsame Mahlzeiten, bei denen Sie sich mit Ihren Kindern austauschen können.

Psychische Erkrankungen bei Jugendlichen

Weitergehende Informationen unter Aktionsbündnis Seelische Gesundheit: www.fairmedia.seelischegesundheit.net

Text und Logo mit freundlicher Genehmigung von Aktionsbündnis Seelische Gesundheit: www.fairmedia.seelischegesundheit.net

 

 

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